Zen – Ein Weg in die Tiefe oder eine Toolbox für Stressbewältigung?
In meiner Begleitung von Menschen, insbesondere im Zen, sind mir mittlerweile schon viele hundert Menschen begegnet. Man muss nicht lange studiert haben, um zu wissen, welche zunehmende Rolle Stress in unserer Gesellschaft und für den Einzelnen spielt. Auf die Frage, warum bist du hier, warum willst du meditieren, antworten sicher 80 % der Menschen: „Ich suche Ruhe!“, „Meine Gedanken kreisen, mein Kopf ist voll!“, „Ich brauche einen Ausgleich! “ oder auch sowas wie „Ich möchte gelassener werden!“. Wir fühlen uns getrieben, von den äußeren Umständen und damit einhergehend von den Anforderungen, die in einer Vielzahl tagtäglich auf uns einströmen. Unser Handlungsspielraum scheint zunehmend kleiner zu werden. Die Vorstellung, dass es auch anders sein könnte in unserem Leben oder wir etwas ändern könnten, erscheint fast wie ein Traumgebilde.
Sehnsucht nach Stille
Aus diesem Zustand zunehmender innerer Unruhe wächst der Wunsch zur Ruhe kommen zu wollen. Das ist mehr als nachvollziehbar und verständlich. Denn Stress mit seinen psychischen Symptomen, wie Gedankenkreisen und Grübeln, oder seinen körperlichen Erscheinungsformen wie Verspannungen, die dann zu Rücken- oder Kopfschmerzen führen – um nur ein paar zu nennen -, fühlt sich einfach nicht gut an und hat Auswirkungen auf unsere Gesundheit. Nicht selten ist dann auch die eine oder andere schlaflose Nacht dabei, oder wir können abends schwer einschlafen oder wachen morgens vor der Zeit auf und sind dann für den Rest des Tages müde und weniger leistungsfähig. Ein Kreislauf beginnt. Intuitiv wissen wir, dass wir in eine Schieflage geraten sein könnten.
Sport und Meditation als Lösung – Chance oder trügerisch
Also suchen wir etwas, was uns reguliert, damit wir in unserem Leben etwas besser „zurechtkommen“ und wir eben weniger Stress haben.
Genau an dieser Stelle setzen mittlerweile ganz viele Methoden an, die dir helfen sollen dich „besser zu fühlen“. Der Markt von Sport- und Fitness-Apps bis Mindfulness in 10 Schritten, wie du besser schlafen und atmen lernst, boomt.
Natürlich ist es gut sich körperlich zu betätigen und Sport zu machen. Auch wenn für den einen oder anderen Sport als Mord erscheint, hast du bestimmt schon gemerkt, dass nach einem Spaziergang oder wenn du mal ordentlich ins Schwitzen gekommen bist, der Kopf frei ist.
Auch der positive Effekt von Meditation oder Achtsamkeit ist im klinischen Kontext angekommen und die positive Wirkung durch zahlreiche Studien bestätigt.
Das Ganze hat aber auch seine Tücken
Nämlich dann, wenn der Grund für Meditation oder Sport ist, dass du das Gefühl hast, dass du etwas ausgleichen „müsstest“. Nicht selten höre ich Sätze wie: „Ich habe meine Mitte verloren.” oder „Ich bin nicht mehr in meiner Balance.“
Du nutzt in diesem Fall Meditation als Tool, um das zu regulieren, was sich anscheinend von allein nicht mehr reguliert.
Normalerweise sind unser Körper und unser Nervensystem gegenläufig dynamisch. Es gibt Phasen der Aktivierung und Phasen der Entspannung. Wenn beides im Gleichgewicht ist, dann wechseln sich diese beiden Pole ab. Das merkst du daran, dass du nach einer aktiven Phase langsam wieder zur Ruhe kommst und dich entspannst oder sogar einschläfst. Danach wachst du ausgeruht auf und kannst mit neuer Frische und Kraft in den Tag starten.
Aber etwas ist durcheinandergeraten, wenn du in Zeiten der nachlassenden Anspannung nicht zur Ruhe kommst oder wenn du eigentlich aktiv sein solltest, aber du merkst, dass du innerlich erschöpft bist und nur noch im Autopilotmodus läufst. Das ist ein deutliches Zeichen für sich anbahnenden chronifizierenden Stress. Auch körperliche Reaktionen wie Verspannungen sind erste Anzeichen dafür.
Wenn du nun in Phasen mit hohem Stresslevel anfängst zu meditieren, wird dir erstmal im Zazen, dem Sitzen in Stille, nichts anderes begegnen als dein eigener Stress. Mit voller Ladung spürst du die Anspannung, die sich in deinem Körper befindet. Deine Muskeln und dein Bindegewebe sind angespannt, was sich dann vielleicht mit Schmerzen ausdrückt. Du spürst die Unruhe in deinem Körper, in der Form, dass da Bewegungsimpulse sind, oder du bemerkst, wie die Gedanken in deinem Kopf kreisen.
Das ist nicht das, was du wolltest, oder?
Entweder hörst du jetzt auf zu meditieren oder du versuchst, gegen diese bestehende innere Erregung anzuarbeiten. Mit Kraft, Konzentration und Ausdauer versuchst du jetzt zur Ruhe zu kommen. Kurzfristig kann das funktionieren, ähnlich wie beim Sport.
Lies den Beipackzettel! Oder frage jemanden, der sich auskennt.
Hier besteht die Gefahr, dass du mit Meditation versuchst die Aktivierung herunter- oder wegzudrücken. Wenn du aber den Ursachen, die zu deinen Stresssymptomen führen, nicht auf die Schliche kommst, dann kann das langfristig irgendwann zu weiteren Problemen bis hin zu einem Zusammenbruch führen.
Werde zum Detektiv! – Identifiziere die Ursachen
Äußere Umstände können wir an der Stelle oft sehr gut benennen. Doch das reicht nicht aus.
Hast du dir schon mal die Frage gestellt, was du selbst mit deinem Stress zu tun hast?
Mich hat besonders interessiert, wie Erfahrungen, die wir als Kinder oder junge Erwachsene gemacht haben, in unserem späteren Leben noch nachwirken und unser heutiges Leben mehr oder weniger stark beeinflussen. Auch wenn wir heute Erwachsene sind, stellt sich doch die Frage, wie frei wir wirklich sind. Auch im Zen geht es ja letzten Endes um Freiheit.
Sind wir von der Vergangenheit, von dem, was wir erlebt haben, wirklich frei?
Mit was identifizierst du dich? Wer wärst du gerne oder welches Bild versuchst du von dir aufrecht zu erhalten? Möchtest du ein guter Vater/eine gute Mutter oder PartnerIn sein? Kannst du gut „nein“ sagen oder springst du immer ein, wenn Not am Mann/an der Frau ist? Hast du das Gefühl, erst xyz tun zu müssen, damit du dich entspannen darfst? Wie sehr sorgst du dich um deine Familie, um deine Zukunft? Wie wichtig ist dir Harmonie und ein gutes Miteinander? Gehst du Auseinandersetzungen aus dem Weg?
Botschaften unserer Eltern und unsere Strategien damit umzugehen
Die Botschaften unserer Eltern und die Lebensumstände, in denen wir aufgewachsen sind, haben uns als Mensch geprägt. Wie man heute weiß, mehr als es uns tatsächlich bewusst oder lieb ist. Manches haben wir übernommen, gegen manches rebellieren wir noch immer.
Als Kinder waren wir existentiell abhängig von unseren Eltern. Ohne sie konnten wir nicht überleben, wir konnten nicht einfach weggehen. Das ist wichtig zu verstehen. Die Botschaften, die sie uns im Zusammenleben übermittelten, sei es verbal oder auch non-verbal, hatten eine Wirkung auf uns. Das führte dazu, dass je nachdem, wie es die Situation erfordert hat, wir unsere eigenen Impulse, Gefühle, Wünsche oder auch Bedürfnisse
wegdrücken mussten oder uns innerlich von uns selbst zurückziehen oder auch abschneiden mussten.
Um damit umgehen zu können, haben wir verschiedene Strategien entwickelt, um zu leben oder auch zu überleben. Diese Muster, die wir meist unbewusst entwickelt haben und die uns heute als Person mit unserem Charakter ausmachen, sind in unserem Körper und Nervensystem wie eingebrannt. Wir können wortwörtlich nicht aus unserer Haut, auch wenn wir uns das manchmal noch so sehr wünschten. Wenn wir also der Ursache von Stress auf den Grund gehen wollen, bleibt uns nichts anders übrig als diese Muster, die immer mit einer körperlichen oder emotionalen Reaktion einhergehen, zu entschlüsseln. Oftmals ist damit ein innerer Konflikt verbunden, z. B. zwischen dem Bedürfnis nach Eigenständigkeit, also seinen eigenen Gefühlen und Wünschen und Impulsen nachzugehen auf der einen Seite, und auf der anderen Seite der damit verbundenen Angst vor Trennung oder Ablehnung. Wir können nicht zu etwas ja sagen aus Angst, weil wir zu etwas anderem dann nein sagen müssten. Und diese subtile Angst spüren wir in unserem Körper, z. B. als Enge, Anspannung, Unruhe oder Erstarrung.
Positives Denken hat nahezu keinen Effekt
Positives Denken hat an dieser Stelle wenig bis keine Auswirkungen, weil mit inneren Konflikten immer eine Reaktion im autonomen Nervensystem einhergeht. Auf diese Bereiche im Gehirn hat unser Denken keinen Einfluss. Ganz egal, wie sehr wir uns bemühen oder anstrengen.
Sogar das Gegenteil ist der Fall! Je mehr wir uns anstrengen und es uns aber wieder nicht gelingt, ja nicht gelingen kann, führt es dann noch dazu, dass wir uns schlecht oder schuldig fühlen, weil wir es mal wieder nicht hinbekommen haben. So verstärken wir den innerlichen Druck und der Stress wird noch größer.
Wie du siehst, ist es komplizierter, als du vielleicht gedacht hast.
Mein Fazit!
Mediation ist kein Allheilmittel für Stress! Sie kann hilfreich sein und dich in gesundem Maß unterstützen und in eine Tiefe führen. Manchmal kann Meditation, insbesondere Zen, aber auch kontraproduktiv sein, vor allem bei manchen Traumata. Es gilt hier wirklich im Einzelfall genau hinzuschauen und zu erkunden, was es mit dem Stress auf sich hat. Er ist letztendlich nur ein Symptom für etwas anderes, was du ernst nehmen solltest.
Bei der Frage, was, wann und wieviel gut sein kann, ist es wie mit allem: Die Dosis entscheidet darüber, ob es gute Medizin ist oder Gift. Es ist gut, jemanden zu fragen, der sich damit auskennt und dem/der du vertraust.